Sonja Pleßls Rede zum Internationalen Frauentag auf der FrauenLesbenMigrantinnenDemo am Schwedenplatz in Wien.

 

#MeToo hat viele Frauen ermuntert, das Schweigen zu durchbrechen. Wir wissen, wie schwierig das ist. Es muss schwierig sein, sonst hätten wir in Österreich ein ganz anderes Ausmaß an öffentlichem # MeToo.

Rachel Moran, ehemalige Prostituierte aus Irland, schreibt in ihrem Buch Was vom Menschen übrig bleibt: „Mir fällt keine Gruppe ein, die weniger in der Lage ist, ihren Schmerz auszudrücken, als prostituierte Frauen, denn abgesehen davon, dass sie dafür bezahlt werden, ihn für sich zu behalten, wäre alles andere mit erheblichen Gefahren verbunden.“[1]

Es ist kein Zufall, dass ich hier stehe und rede, mit meinem Gesicht, und nicht eine der ehemaligen prostituierten Frauen, mit denen wir in Kontakt sind.

Ich bin von der Initiative Stopp Sexkauf, der österreichweiten Plattform für das Nordische Modell. Wir fordern die Abschaffung des Freiertums, Ausstiegsprogramme für Prostituierte, Prävention und Freierbestrafung. Das Nordische Modell beinhaltet immer die völlige Entkriminalisierung von Prostituierten.

Es gibt mittlerweile sechs Länder, die das Nordische Modell umgesetzt haben. Manche gut, manche noch nicht. Dem ging in jedem Land ein zehn-, zwanzig-, dreißigjähriger intensiver politischer Kampf von Frauen voraus. Zuletzt hat die Knesset, das israelische Parlament, einstimmig einen Gesetzesentwurf für das Nordische Modell angenommen. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass in den österreichischen Medien nicht darüber berichtet wurde, genauso wenig wie voriges Jahr über die 2. Weltkonferenz zur Abschaffung der Prostitution in New Delhi. Berichtet hat die EMMA.

Die aktuelle Mainstream-Sichtweise in Österreich auf Prostitution beruht auf Mythen, die Frauen und Mädchen in- und  außerhalb der Prostitution zum Schweigen bringen sollen.

1. Mythos: Was es lange gegeben hat, sei eine Notwendigkeit. Nein. Kein Mann stirbt, wenn er nicht sexuell bedient wird.

2. Mythos: Prostituierte Frauen seien anders als nicht prostituierte, wilder, geiler, dehnbarer, schmerzunempfindlicher. Nein. Eine Frau ist eine Frau. Aber: Prostitution setzt eine Unterklasse von Frauen voraus und stützt deren Ausbreitung. Darauf hat die große amerikanische Feministin Andrea Dworkin, selbst betroffen von Obdachlosigkeit und Prostitution, immer wieder hingewiesen. Dazu kommt, dass keine Industrie so unverhohlen mit Rassismus wirbt, wie die Sexindustrie, wie Prostitution und Pornografie. Die Sexindustrie fußt auf der Exotisierung anderer Kulturen, wirbt mit Naturgeilheit, Wildheit, natürlicher Unterwürfigkeit. Die Bezeichnung Squaw für die indigenen Frauen Kanadas und Amerikas als sexuell abartige, lüsterne, wilde Frauen wurde von weißen Männern zur Rechtfertigung ihrer sexuellen Übergriffe erfunden.[2] Ostjüdinnen galten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Argentinien und Brasilien als „leichtsinniger und unmoralischer als alle anderen“ Frauen – damals, als der Menschenhandel von Galizien, dem Armenhaus Österreich-Ungarns nach Südamerika lief. Darüber schreibt Martin Pollack in Kaiser von Amerika und zitiert einen polnischen Fachmann für die Auswanderung aus Österreich.[3]  Die schwarze amerikanische Feministin Vednita Carter schreibt über das heutige Amerika: „ […] weiße Männer aus der Mittelschicht der Vorstädte [fahren] durch die Ghettos Amerikas, um sich schwarze Frauen oder Mädchen herauszupicken, mit denen sie Sex haben wollen, so als wären unsere Städte ihre Privatplantagen. […] als wir aufwuchsen, bekamen wir die gleiche Botschaft vermittelt, die unsere Töchter heute vermittelt bekommen: So ist es eben, das sind wir eben […].“[4]

3. Mythos: Faschistische und fundamentalistische Regime, inkl. der Nazis, wären sexfeindlich. Nein, im Gegenteil: Die Nazis zogen in den eroberten Ländern Wehrmachtsbordelle auf. Heute laufen Männerbündeleien im rechten und rechtsradikalen Lager vielfach über gemeinsame Bordellbesuche. Die IS versklavt jesidische Mädchen. Und ich frage mich, warum die versklavten jesidischen Mädchen so schnell wieder aus den Medien verschwunden sind…

4. Mythos: Arme Frauen gehen freiwillig in die Prostitution. Ja, so freiwillig wie indigene und schwarze und Roma-Frauen. Alternativlosigkeit ist das Gegenteil von Selbstbestimmung. WHISPER, eine Überlebendenorganisation ehemaliger prostituierter Frauen, schreibt: Wenn kein Geld fließt, werden [die in der Prostitution üblichen] Handlungen als Belästigung und Missbrauch bezeichnet.

Warum wird in unserer Gesellschaft, in unserem Land, den ärmsten und diskriminiertesten Frauen etwas zugemutet, was keine Frau haben will?

5. Myhtos: Prostitution verursache keine Schäden. Jede Frau spürt auf ihrer Haut, in ihrem Körper, was jede Frau spürt. Vagina, Anus, Brüste, Haut, Bindehaut, Psyche – das sind keine voneinander trennbaren Bestandteile weiblichen Menschenmaterials. Der Körper lässt sich nicht vom Geist trennen, und die Identität eines Menschen ist beides. Das weiß man – zumindest, seit wir nicht mehr im Mittelalter leben. Wie jeder Markt will die Sexindustrie expandieren und brutalisiert sich. Sie vermarktet mit aller Werbegewalt die Frau als legitimen Bedarfsartikel für die sexuelle Lust von Männern. In Österreich ist Gangbang erlaubt – eine Werbung dafür lief so: 20 Männer, 2 Frauen, 2 Stunden. Das ist eine Kriegssituation. Dissoziation, die Fähigkeit zum vermeintlichen Aussteigen aus dem eigenen Körper, ist eine automatische Überlebensreaktion, die Folteropfer, Missbrauchsopfer und Prostituierte verbindet. Sie schädigt die Psyche. Das anerkennt man bei Folter- und Missbrauchsopfern. Mittlerweile. Nicht aber bei Prostituierten. Noch immer nicht. Warum?

6. Mythos: Prostitution schütze andere Frauen, weil Männer dadurch nicht übergriffig werden. „Als ich fünfzehn oder sechzehn war“, schreibt dazu Rachel  Moran, „brachte ein Mann von Mitte vierzig seinen Sohn, einen Teenager, auf den Strich, um ihm seinen Weg aus der Jungfräulichkeit zu erkaufen. […] Es war diese persönliche Nahaufnahme eines Vaters, der seinen Sohn dazu erzog, Frauen wie Fleisch zu behandeln, die mich so abstieß. […] Wenn nach dem Frauenbild, das ein Vater an seinen Sohn weitergibt, Frauen Dinge sind, die man kauft und fickt, so muss ich mich fragen, zu welcher Art Ehemänner Jungen wie er heranwachsen? Was für Partner werden sie sein? Was für Väter? Diese Desensibilisierung von Männern gegenüber der sexuellen Intimität mit Frauen ist an sich ein enormer Verlust.“[5] Wir wissen aus Studien, dass überall dort, wo Prostitution toleriert oder gar propagiert wird, die sexuelle Gewalt steigt. Prostitution ist die Entmenschlichung von Frauen. Die große österreichische Sozialdemokratin, Adelheid Popp, als Adelheid Dworschak 1869 in Inzersdorf als fünfzehntes Kind einer Weberfamilie geboren, beschreibt in ihrem Buch Jugend einer Arbeiterin[6], wie sehr Dienstmädchen dem sexuellen Missbrauch durch ihre Dienstherren, und vor allem auch durch deren Söhne, ausgesetzt waren. Das waren die gleichen Bürgerssöhne, die sich ihre „sexuelle Erfahrung“ am Spittelberg auf den Körpern von Prostituierten erkauften. Das Freiertum ist nicht neu, nicht alternativ, nicht cool. Das Freiertum ist der Inbegriff des Spießertums.

Bei Prostitution hört sich der Spaß vieler junger, cooler Männer mit der Frauenbewegung auf. Da wird es konkret. Da verscherzen wir es uns, da kommen plötzlich alle Mythen, mit denen Frauenrechtlerinnen immer konfrontiert worden sind:  verbissen, alt, hässlich, sexfeindlich, männerfeindlich. Trauen wir uns das – wie die Riesinnen es sich trauten, auf deren Schultern wir alle stehen. Trauen wir es uns für alle Prostituierten, für unsere Mädchen, die mit uns aufwachsen und nach uns kommen – und für uns selber.

Anmerkungen: 

In zahlreichen europäischen Ländern werden vor allem Rominja prostituiert, die Frauen und Mädchen der Minderheit der Roma. Sie machen 50 bis 80 Prozent der Prostituierten in Bulgarien aus, bis zu 70 Prozent in Teilen der tschechischen Republik, ca. 50 Prozent in Rumänien, mindestens 60 Prozent in der Slowakei, fast 40 Prozent in Ungarn. In Indien stammen 65 Prozent der Prostituierten aus den untersten Kasten. Der Großteil der Straßenprostituierten in Neuseeland wird aus der Minderheit der Maori rekrutiert. In Kanada bilden indigene Frauen und Mädchen 50 bis 70 Prozent der Straßenprostituierten, obwohl sie nur 4 Prozent der weiblichen Bevölkerung Kanadas ausmachen.

Quellen: Presseinformationen der Coalition for the Abolition of Prostitution auf der ersten abolitionistischen Weltkonferenz in Paris 2014.

http://www.haut-conseil-egalite.gouv.fr/violences-de-genre/actualites/article/a-l-occasion-du-1er-congres

http://www.cap-international.org/fr/activity/hosting-the-first-international-abolitionist-congress/

Literatur:

Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution. Marburg: Tectum Verlag 2015

Native Women’s Association of Canada: Fact Sheet. Root Causes of Violence against Aboriginal Women and the Impact of Colonization https://www.nwac.ca/wp-content/uploads/2015/05/Fact_Sheet_Root_Causes_of_Violence_Against_Aboriginal_Women.pdf

Pollack: Kaiser  von Amerika. Die große Flucht aus Galizien. Wien: Zsolnay 2010

Adelheid Popp: Jugend einer Arbeiterin. Nachdr. d. 1922 ersch. 4. Aufl. Bonn-Bad Godesberg: Dietz, 1977

[1] Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution. Marburg: Tectum Verlag 2015, S. 357.

[2] Native Women’s Association of Canada: Fact Sheet. Root Causes of Violence against Aboriginal Women and the Impact of Colonization https://www.nwac.ca/wp-content/uploads/2015/05/Fact_Sheet_Root_Causes_of_Violence_Against_Aboriginal_Women.pdf  Die „squaw“ als Synonym für dreckig, lüstern, wild, sexuell abartig wurde von den Kolonialherren zur Brechung des Widerstands indigener Frauen erfunden, so die indigene Theaterwissenschafterin und Mitbegründerin des Manitou College, Gail Guthrie Valaskakis.

[3] Martin Pollack: Kaiser  von Amerika. Die große Flucht aus Galizien. Wien: Zsolnay 2010, S. 57.

[4] Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution. Marburg: Tectum Verlag 2015, S. 364.

[5] Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution. Marburg: Tectum Verlag 2015, S. 350-351.

[6] Adelheid Popp: Jugend einer Arbeiterin. Nachdr. d. 1922 ersch. 4. Aufl. Bonn-Bad Godesberg: Dietz, 1977.